Donnerstag, März 16, 2006

 

Was ist Ideologie war: Diskussionen ohne Dialektik!

Was ist Ideologie?*

*Wie objektive Verblendung zum allgemeinen Schicksal wird*

Der klassischen Lukácsschen Definition des Begriffes zufolge ist
Ideologie "notwendig falsches Bewußtsein". Falsches Bewußtsein,
unmittelbar genommen, scheint jedes beim Subjekt erzeugte Bild von
der Wirklichkeit, das durch subjektive Faktoren beeinflußt oder
bestimmt und insofern kein einfaches Abbild der Wirklichkeit, keine
adaequatio rei, nicht objektiv ist, das also, insofern Objektivität
als Signum der Wahrheit gilt, die Wirklichkeit verfälscht, falsch
ist.

Dabei handelt es sich bei den subjektiven Faktoren allerdings um
keine bloß negativen Bestimmungen, keinen reinen Mangel, keine
Defizienz der Sinneswahrnehmung oder der Urteilskraft; ginge es
darum, wir brauchten die Falschheit des entstehenden Bildes nicht mit
dem hochgestochenen Begriff Ideologie zu belegen, es genügte, von
Versehen, Irrtum, Unverstand zu reden.

*Ideologie ist weder Lüge noch Täuschung*

Die subjektiven Faktoren sind vielmehr positiver Art, sind zum
Wahrnehmen und Erkennen hinzutretende Bestimmungen, sind im Subjekt
wirksame Absichten oder Rücksichten. Das kann vielerlei sein:
persönlicher Vorteil, dieses oder jenes Interesse, Vorurteile,
religiöser Glaube, kulturelle Tradition, soziale Abhängigkeit,
Klassenlage, usw. Aber worin auch immer die Absicht oder Rücksicht
besteht, ideologiebildend wirkt sie nur, wenn sie zwar im Subjekt,
aber nicht mit Wissen des Subjektes wirkt, wenn also das Subjekt sie
nicht nach Gutdünken und mit Bewußtsein geltend macht und das Bild
von der Wirklichkeit verfälschen läßt, sondern wenn sie sich quasi
hinter dem Rücken des Subjekts zur Geltung bringt und sein Bild von
der Wirklichkeit, ohne daß er weiß, wie ihm geschieht, beeinflußt.
Andernfalls könnten wir ja erneut auf den Ideologiebegriff verzichten
und getrost von Entstellung, Täuschung, Lüge sprechen.

Falsches Bewußtsein im Sinne einer durch nichtbewußte Interessen
verfälschten Auffassung der Realität ist demnach Ideologie,
allerdings nur - womit wir beim zweiten Moment der Lukacsschen
Definition sind -, wenn die Verfälschung "notwendig" ist. Dieser
notwendige, zwingende Charakter des Falschen könnte scheinbar bereits
in der Nichtbewußtheit des verfälschenden Interesses seinen
hinlänglichen Grund zu haben scheinen, nach dem Motto: Wenn ich mir
des Interesses nicht bewußt bin, das mein Bild von der Wirklichkeit
verfälscht, bin ich ihm wehrlos ausgeliefert und geschieht die
Verfälschung des Bewußtseins insofern zwangsläufig, notwendig.
Allerdings bliebe eine solche Notwendigkeit doch zugleich zufällig,
weil sie bloß erkenntnispraktisch begründet wäre; das Nichtbewußte
könnte mir dank irgendeines Umstandes bewußt werden, und dann wäre es
mit dieser Art von Notwendigkeit vorbei.

*Objektivität von Ideologie*

Heute ist die Tendenz groß, die Notwendigkeit des falschen
Bewußtseins quasi quantitativ, durch Verweis auf den kollektiven
Charakter der das Bewußtsein bestimmenden Interessen zu begründen.
Nichts anderes meint die Rede von den "ideologischen Mächten", die
das Zwingende gewisser als Ideologie erscheinender Wahrnehmungs- und
Verhaltensweisen, eben das Moment von Notwendigkeit an ihnen, darauf
zurückführt, daß die Träger der das Bewußtsein verfälschenden
Interessen nicht die Individuen, sondern Gruppen oder Klassen von
Menschen, organisatorische Systeme, institutionelle oder kulturelle
Zusammenhänge sind, die den einzelnen als Teil des Ganzen durch
Kommunikation, Interaktion, Erziehung, Rituale indoktrinieren und
konditionieren. Das Ideologie genannte falsche Bild von der
Wirklichkeit wäre demnach das Ergebnis einer gesellschaftlichen
Indoktrination im weitesten Sinne, seine Notwendigkeit wäre die
relative Notwendigkeit, für die eine Kollektivpsychologie einsteht.
Dabei ist es sekundär, ob es sich bei solchen
kollektivpsychologischen Ideologievorstellungen um rechte
Kommunikationstheorien a la Habermas oder Derrida handelt, die uns
neueste reklamegesellschaftliche Entwicklungen des Kapitalismus als
intellektuelles Reformprogramm verkaufen wollen, oder um linke
Verschwörungstheorien a la Althusser oder Foucault, die
gesellschaftliches Bewußtsein auf eine wie immer subjektlose
Indoktrination zurückführen möchten.

Ich halte es dagegen für heuristisch angebracht, den Lukácsschen
Begriff so unbedingt aufzufassen, wie er dasteht, ihn also nicht
gleich kollektiv-psychologisch zu relativieren, sondern ihn in seiner
objektiv-logischen Bedeutung als uneingeschränkt gültig anzunehmen.
Objektiv-logische Notwendigkeit im Unterschied zur bloß
kollektiv-psychologischen ist, wie der Begriff schon sagt, eine
Notwendigkeit, die aus der Sache selbst resultiert, die sich aus der
inneren Logik des Objekts ergibt. In unserem Fall bedeutet das, daß
die Falschheit des Bewußtseins, die Falschheit des im Bewußtsein
entstehenden Bildes von der Wirklichkeit, der objektiven Logik des
Abgebildeten entspringt, Produkt der Wirklichkeit selbst ist. In
diesem streng genommenen Sinne der Lukácsschen Definition wäre also
Ideologie notwendig falsches Bewußtsein deshalb, weil die subjektiven
Interessen, die das Bild von der Wirklichkeit verfälschen, die
Objektivität entstellen, durch die Wirklichkeit selbst zur Geltung
gebracht, vom Objekt als solchem dem Bewußtsein untergejubelt wurden.
Das klingt paradox, ist aber genau das, was mit der marxistischen
Ideologiedefinition gemeint ist.

*Scheincharakter der Erscheinungen*

Das können wir erkennen, wenn wir die abstrakte Interpretationsebene,
auf der wir uns bislang mit der Definition beschäftigt haben,
verlassen und die Definition in den historischen Kontext stellen, in
dem und im Blick auf den Marx den Ideologiebegriff aufgreift. Dieser
Kontext ist eine linksliberale Reflexionstradition, die von Anfang
des 19. Jahrhundcrts datiert, Leute wie die Saint-Simonisten, Comte
und Feuerbach umfaßt und einem antimetaphysischen Kult des sei's
erkenntnistheoretisch als empirische Unmittelbarkeit, sei's
lebenspraktisch als sinnliche Konkretheit vorgestellten fait positif
oder tatsächlich Gegebenen huldigt. Dieser Tradition entstammt auch
der Ideologiebegriff selbst. Geprägt wird er von einer Gruppe
napoleonischer Wissenschaftler, die 1801 eine kurzlebige Gesellschaft
gründen und sich als ideologues bezeichnen. Damit wollen sie sich
natürlich nicht als Träger eines notwendig falschen Bewußtseins
brandmarken. Sie wollen damit im Gegenteil geltend machen, daß sie
über eine privilegierte Objektivitätserfahrung, einen durch
Unmittelbarkeit, Unvoreingenommenheit, Sachhaltigkeit ausgezeichneten
besonderen Zugang zur Realität verfügen. Unter dem Ideologiebegriff
reklamieren sie mit anderen Worten genau das realitätsentsprechende
Wissen, genau das objektive Bewußtsein, das ihnen wenig später Marx
durch seine Definition von Ideologie kategorisch abspricht und für im
Gegenteil notwendig realitätsentstellend, notwendig falsch erklärt.
So, wie sie sich vorstellt, ist die Realität unmittelbar Gegebenes,
sinnenfällige Erscheinung. Auf dies unmittelbar Gegebene, den fait
positif, berufen sich die Ideologen als auf die Realität sans phrase,
auf diese sinnenfällige Erscheinung gründen sie ihr als Ideologie im
positiven Sinne, als authentisches Erscheinungswissen, verstandenes
Wissen von der Realität. Und genau dies Verhältnis denunziert nun
Marx als Ideologie im pejorativen Sinne, weil der Gegenstand solchen
Erscheinungswissens, der fait positif, trügerisch, das unmittelbar
sich Gebende falsch, die sinnenfällige Erscheinung täuschender Schein
sei.

Marx legt damit den Finger auf einen objektiven Widerspruch in
unseren Gesellschaften, der, so virulent er bereits zu Marxens Zeiten
war, sich doch aber heute noch ungleich entfalteter und in der Tat
zum Strukturmerkmal von Erfahrung schlechthin totalisiert darbietet -
den Widerspruch zwischen der systematisch-ideologischen
Unvermitteltheit und der empirisch-praktischen Vermitteltheit aller
Realität. Tatsache ist, daß in einem nie gekannten Ausmaß alle Dinge
dieser Welt aktuell oder potentiell, der Sache oder der Form nach,
durch menschliche Arbeit hervorgebracht, Resultat praktischer oder
theoretischer menschlicher Vermittlungstätigkeit sind. Tatsache ist
aber auch, daß in einem nie gekannten Ausmaß all diese produzierten
Dinge mit dem Anschein einer von sämtlichen Produktionsbedingungen
und Produktionsprozessen abgelösten unmittelbaren Gegebenheit und
fixen Fertigkeit auftreten. Tatsache ist, daß die Welt in einem nie
gekannten Ausmaß Warencharakter hat oder, wie Marx im ersten Satz des
"Kapital" formuliert, daß "der Reichtum der Gesellschaften, in
welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, als eine ungeheure
Warensammlung (erscheint)". In der Tat zeichnet sich die Ware durch
diese Gleichzeitigkeit von konkreter Geschaffenheit und abstrakter
Gegebenheit aus und ist in dieser ihrer unaufgelösten
Zwitterhaftigkeit allein schon wegen der Allgegenwart, die ihr
mittlerweile eignet, paradigmatisch für die heutige Erfahrung von
Realität überhaupt. Sie ist etwas von Menschenhand und Menschengeist
Erzeugtes, dennoch tritt sie ihren Erzeugern als quasi Naturphänomen
entgegen.

Die Sphäre, kraft derer die Ware diesen Charakter abstrakter
Gegebenheit gewinnt, ist der Markt. Weil die Produzenten nicht aus
eigenem Antrieb und zum eigenen Gebrauch, sondern auf Rechnung des
Marktes produzieren, treten ihnen ihre Produkte, kaum daß sie sie
geschaffen haben, als Gegebenheiten dieses objektiven Zusammenhanges
entgegen. Ihre Hervorbringungen bleiben nicht ihr Produkt, sondern
verwandeln sich im Augenblick ihres Hervorgebrachtseins in Setzungen
des Marktes. Dabei bleibt den Produzenten gar nichts anderes übrig,
als für den Markt zu produzieren. Allgemeine Bedingung der Kontrolle,
die der Markt über die Produktion ausübt, und der bestimmenden
Bedeutung, die er für die Arbeitsprodukte gewinnt, ist die
Arbeitsteilung, die Tatsache, daß die Produzenten mit ihren Produkten
gar nichts oder nur partiell etwas anfangen können. Besondere Ursache
dieser Kontrolle und bestimmenden Bedeutung des Marktes ist der
spezifisch kapitalistische Faktor, die Verfügung des Marktes über die
Produktionsmittel.

Weil der Markt all die Subsistenzmittel hat, die sie brauchen, aber
selbst nicht produzieren, und weil der Markt mehr noch im Besitz der
Produktionsmittel ist, die sie brauchen, um überhaupt etwas
produzieren zu können - aus diesem doppelten Grund müssen die
Produzenten ihre Produkte dem Markt übereignen und zulassen, daß
diese ihnen als Setzungen des Marktes, das heißt, in der abstrakten
Unmittelbarkeit gegebener Waren, entgegentreten. Sie sind dazu
gezwungen, aber das bedeutet nicht unbedingt, daß sie es wider Willen
tun. Schließlich erhalten sie etwas für die Abtretung ihrer Produkte,
bekommen dafür ein als Lohn deklariertes Entgelt, und das eröffnet
ihnen als Kaufmittel den Zugang zu den auf dem Markt versammelten
Subsistenzmitteln, die sie brauchen. Was die Produzenten dem Markt
liefern und überlassen, ist ein bestimmtes Produktquantum, das ihren
Anspruch begründet, ein entsprechendes Quantum Waren vom Markt
zurückzuerhalten. Das Maß für dieses Quantum ist der Tauschwert, der
unmittelbar in Produktform erscheinende, objektivierte Ausdruck der
durchschnittlichen gesellschaftlichen Arbeitszeit, die vom
Produzenten jeweils für die Produktion aufgewandt wurde. Was die
Produzenten als Gegenleistung für das dem Markt gelieferte
Wertquantum erhalten, ihr Lohn, ist das sogenannte allgemeine
Wertäquivalent, Geld, der allgemeine Warenrepräsentant, ein
Passepartout für alle auf dem Markt in gebrauchsgegenständlicher Form
vorhandenen Werte, eine Art Gutschein, mit dem sie auf dem Markt
Waren einlösen können, die sie brauchen. Die Rationalität dieses
Gutscheins besteht darin, daß er in einer arbeitsteiligen
Gesellschaft schwierige oder unmögliche Ringtauschprozeduren erspart,
weil er als allgemeines Wertäquivalent unmittelbaren Zugang zu allen
Waren eröffnet.

Aber das Geld ist mehr als bloßer Gutschein, allgemeines
Wertäquivalent. Es hat eine wertappropriative Funktion. Indem die am
Wertbildungsprozeß Beteiligten für ihren Wertbeitrag zum Markt
Wertäquivalent, Geld, erhalten, erhalten sie niemals das tatsächliche
Äquivalent, sondern stets ein um einen bestimmten Anteil, den der
Markt als sein Eigentum reklamiert, gekürztes Quantum. Der Markt
behält beim Austausch von Wertäquivalent gegen Produkt einen Teil des
im Produkt vergegenständlichten Wertes als seinen "Lohn", den von den
Produzenten für den Markt geschaffenen Mehrwert, ein. Kein Markt und
keine marktbestimmte Produktion ohne dieses Aneignungsprinzip! Darin
bloß die subsistentielle Vergütung für die den Markt Betreibenden
sehen zu wollen, greift zu kurz! Erstens ist der Marktanteil
traditionell zu groß, um als bloß subsistentielle Vergütung gelten zu
können. Und vor allem spricht zweitens die Verwendung dieses
Marktanteils eine deutliche Sprache. Im Normalfall wird er ja von den
Betreibern des Marktes nicht als Subsistenzmittel verzehrt oder
konsumiert, sondern so rasch wie möglich durch Verkauf in seinem Wert
realisiert, das heißt, in allgemeines Wertäquivalent, in klingende
Münze, Geld, verwandelt, um zusammen mit dem Wertäquivalent, das als
Lohn an die Produzenten ausgegeben wurde, und das diese zur
Befriedigung ihrer subsistentiellen Bedürfnisse dem Markt
zurückerstatten, in neue, nach Maßgabe des Zuwachses an
Wertäquivalent erweiterte Produktionsprozesse gesteckt zu werden, die
wiederum dem gleichen Zweck einer Aneignung von Wert durch den Markt
dienen.

Vom Markt her gesehen dient also der ganze Vorgang der Ubersetzung
der Arbeitsprodukte in die abstrakte Unmittelbarkeit von Waren, in
fix und fertige, marktgesetzte Gegenständlichkeit, dessen Angelpunkt
und Schaltstelle die Dazwischenkunft des als Lohn firmierenden Geldes
ist, der Aneignung von Mehrwert durch den Markt. Das als Lohn
firmierende Geld erfüllt aus dieser Sicht von Anfang an die Rolle von
Kapital im allgemeinen, von Wert, der Wert schafft und akkumuliert.
Die Produzenten arbeiten für Geld in dem zweideutigen Sinne, daß sie
arbeiten, um Geld für Subsistenzmittel zu erwerben und dabei aber das
Geld sie arbeiten läßt, um Mehrwert zu bekommen.

Die Produzenten müssen sich aus den genannten Gründen der
marktkonstitutiven Arbeitsteilung im allgemeinen und ihrer
kapitalkonstitutiven Trennung von den Produktionsmitteln im
besonderen mit diesen expropriativen Konditionen ihres Tuns, die sich
im Austausch Produkt gegen Lohn, Wertmasse in Warenform gegen
Wertäquivalent in Geldform zur Geltung bringen, zufriedengeben. Sie
müssen die Überführung ihrer Produkte in die Unmittelbarkeit, den
fait positif, der marktgesetzten Warenwelt, in deren Gestalt sich die
Mehrwertaneignung vollzieht, akzeptieren, um an das Geld zu kommen,
das ihnen ihre Subsistenz verschafft. Ihr Akzeptieren fällt
bereitwilliger oder widerstrebender aus - je nachdem, wie reichlich
die Subsistenz bemessen ist, die ihnen ihr Lohn, das Geld,
ermöglicht.

*Über die Ideologen in den Anfängen des Marktsystems*

Aber da gibt es von Anfang an neben den Betreibern des Marktes und
den Produzenten noch eine dritte Gruppe - diejenigen, an die die
Betreiber des Marktes den durch den Austausch mit den Produzenten
erworbenen Mehrwert in Warenform veräußern, um ihn als Mehrwert sans
phrase, das heißt, als Mehrwert in Geldform, zu realisieren. Weil die
Betreiber des Marktes den Wert ihrer Waren einschließlich Mehrwert
nur brauchen, um neue Produktionsprozesse in Gang zu setzen und neue
mehrwertige Waren produzieren zu lassen, können sie mit dem Mehrwert
in der unmittelbaren, gebrauchsgegenständlichen Gestalt, die er als
Ware hat, nichts anfangen und suchen jemanden, an den sie ihn
verkaufen können. Aus der Gruppe der Produzenten können die Gesuchten
nicht kommen - die haben ja nur den Produktwert abzüglich des in
Produktform verkörperten Mehrwerts eintauschen können. Die Gesuchten
kommen also von außerhalb des durch den Markt und die Produzenten
gebildeten gesellschaftlichen Reproduktionssystems und sind dessen
offenkundige Nutznießer. Das einzige, was sie brauchen, ist
allgemeines Wertäquivalent, Geld, das sie nicht aus marktbezogenen
Lohnverhältnissen, sondern aus anderen Zusammenhängen mitbringen und
mit dem sie sich quasi in den Markt einkaufen. Ohne sie und ihr von
außerhalb des Systems eingeschleustes Geld ist die über den Mehrwert
verlaufende Akkumulationsstrategie der Betreiber des Marktes
unmöglich, und insofern sind sie ein konstitutives Moment jedes auf
der Aneignung und Akkumulation von Mehrwert basierenden Marktsystems.

Anders als für die Produzenten ist für diese Gruppe die
Unmittelbarkeit der auf dem Markt erscheinenden Waren, die abstrakte
Konkretheit, die Positivität der austauschvermittelten Wirklichkeit,
keine bloß negative Bedingung, die sie um ihrer Subsistenz willen
akzeptieren müssen, sondern im Gegenteil die positive Voraussetzung
dafür, daß sie an den Segnungen des Marktes partizipieren kann. Als
Konsequenz und Ausdruck der Aneignung von Mehrwert durch den Markt
ist die Unmittelbarkeit der Waren das, was der Gruppe den Einstieg in
den Markt und die Teilhabe an seinen Gütern ermöglicht und wird
deshalb von der Gruppe nicht nur akzeptiert beziehungsweise
toleriert, sondern affirmiert beziehungsweise als normative
Wirklichkeit hochgehalten. So gewiß die Gruppe auf die
Expropriationsstragegie des Marktes angewiesen ist, um an
Lebensmittel und Konsumgüter zu kommen, so gewiß affirmiert sie den
Mechanismus, durch den die Expropriation vor sich geht,
einschließlich seines Kernstücks, der Überführung der Arbeitsprodukte
in marktgesetzte Waren, und hält den resultierenden Anschein von
Unmittelbarkeit, den eine durch das Phänomen Ware geprägte
Wirklichkeit zur Schau stellt, für das Natürlichste beziehungsweise
Gottgewollteste von der Welt.

Die Mitglieder der Gruppe sind also im obigen Sinne Ideologen,
Anhänger des fait positif, der Naturgegebenheit der Dinge.

Allerdings sind sie in den Anfängen des Marktsystems, etwa in der
Antike oder im Spätmittelalter und in der Renaissance, Ideologen nur
erst in einem sehr allgemeinen Sinn und ganz gewiß nicht in der
spezifischen Bedeutung, die der Begriff bei Marx erhält. Das hat
mehrere Gründe. Erstens ist diese Gruppe noch relativ klein, wie ja
auch der Markt selbst noch nur erst einen Bruchteil der gesamten
gesellschaftlichen Reproduktion erfaßt. Zweitens ist sie nur erst
partiell am Markt interessiert, das heißt, sie ist zwar zur
Befriedigung bestimmter Konsumbedürfnisse auf den Markt und seinen
Expropriationsmechanismus angewiesen, zieht aber den größeren Teil
ihrer Subsistenz noch aus den traditionellen herrschaftlichen
Zusammenhängen, in denen sie lebt, aus der Arbeit und den Abgaben
ihrer Untertanen und Hintersassen. Drittens steht sie eben deshalb,
weil sie in traditionellen Herrschaftsverhältnissen lebt, in gewisser
Weise noch außerhalb des Marktsystems; das Wertäquivalent, durch das
sie am Markt partizipiert, bringt sie aus ihren äußeren
Zusammenhängen (aus Bergwerken, Kriegsbeute, Kolonien) mit; sie ist
zwar am Markt interessiert, aber nicht in seinem Kontext engagiert.

Das alles ändert sich aber mit Beginn der Neuzeit. Grund dafür ist
eine beispiellose Expansion des Marktes und seiner Transaktionen, die
sich der Koinzidenz einer Reihe von Faktoren verdankt (technische
Fortschritte in der Landwirtschaft und im Handwerk,
Bevölkerungswachstum, Edelmetalle und Waren aus den Kolonien). Diese
Expansion führt zu dem, was Marx als ursprüngliche Akkumulation
bezeichnet, zu einer noch nie dagewesenen Massierung von
Handelskapital, das, weil es nicht genug Produkte findet, in denen es
sich warenförmig verkörpern kann, sich in zunehmendem Maße in
Produktionsmitteln verkörpert, um Kontrolle über die
Produktionsbedingungen zu erlangen und die Produktion auf das
Bedürfnis des Marktes nach immer mehr Waren auszurichten und
einzustellen. Die Konsequenz dieser Kapitalisierung der
Produktionsmittel sind die für eine kapitalistische Ökonomie im
engeren Sinne grundlegende Trennung der Produktionsmittel von den
Produzenten und die völlig neuen Ausbeutungsmöglichkeiten, denen die
letzteren sich durch diese Trennung unterworfen sehen.

Solange die Produzenten dem Markt noch in eigener Regie und mit
eigenen Mitteln gefertigte Produkte liefern, bemißt sich (wenn auch
mit vielen empirischen Einschränkungen) deren Wert und also ihr Lohn
an der durchschnittlichen gesellschaftlichen Arbeitszeit, die sie
dafür haben aufwenden müssen. Jetzt aber kauft der Markt nicht mehr
die Produkte der Produzenten, sondern die Produzenten selbst, ihre
Arbeitskraft. Ein Produkte schaffendes Produkt - das ist es, was der
Markt mit den Produzenten bekommt. Woran bemißt sich nun aber der
Wert dieses "Produkts"? Am Wert der für seine Herstellung
beziehungsweise Wiederherstellung nötigen Produkte, sprich, am Wert
der für die Reproduktion und Erhaltung seiner Arbeitskraft
erforderlichen Subsistenzmittel. Was ein Produzent zum Leben und zur
Reproduktion seiner Arbeitskraft braucht und was also sein Wert ist,
ist an sich schon keine anthropologisch fixe Größe, sondern eine
Sache gesellschaftlicher Konvention und außerordentlichen
Schwankungen unterworfen. Hinzu kommt aber noch, daß wie alle Waren
die Arbeitskraft jetzt nicht nur einen Wert hat, der sich an ihren
Gestehungskosten bemißt, sondern auch einen Preis, über den Angebot
und Nachfrage entscheiden. Und auf dem Markt für die Ware
Arbeitskraft, auf dem Arbeitsmarkt, herrscht in den ersten
Jahrhunderten der kapitalistischen Entwicklung ein Überangebot an
dieser Ware, bedingt einerseits durch die übermächtige Konkurrenz der
kapitalisierten Produktionsmittel, die die traditionelle
Selbständigkeit der Produzenten zerstört und letztere "freisetzt", so
daß sie für ihre Subsistenz auf Lohnarbeit angewiesen sind, und
andererseits durch das starke Bevölkerungswachstum, für das neben den
Fortschritten in Hygiene und Medizin vor allem auch die
kapitalistische Entwurzelung und Deklassierung der Produzenten selbst
schuld ist, auf die diese mit der Alterssicherungsstrategie des
Kinderreichtums reagieren. Die Konsequenz dieses Überangebots an
Arbeitskraft ist, daß die Lohnarbeit Suchenden um die Arbeitsplätze
konkurrieren und so den Repräsentanten des Marktes ermoglichen, ihren
Lohn immer weiter zu drücken und ihre Arbeitsbedingungen, sowohl was
die Länge des Arbeitstages, als auch was die Intensität der
Arbeitsleistung betrifft, immer weiter zu verschärfen. Und beides
wiederum schlägt sich in einem unverhältnismäßig hohen Mehrwertanteil
nieder, den die Marktrepräsentanten einheimsen. Je geringer der
gezahlte Lohn und je größer die in Warenform produzierte Wertmenge,
um so größer der Wertanteil, der nicht an die Produzenten geht,
sondern in der Hand der Marktrepräsentanten bleibt und durch den
Verkauf der Waren als Mehrwert realisiert werden kann.

Ökonomisch gesehen bedeutet dieser hohe Mehrwertanteil, daß der Markt
expandieren und immer mehr Produktionskapazitäten unter seine
Kontrolle bringen und nach Maßgabe seiner Interessen entfalten kann.
Je mehr Wertmasse die Marktrepräsentanten zurückbehalten, um so mehr
können sie in neue Produktionsprozesse stecken. So gesehen, ist die
quantitative Ausbeutung der Lohnarbeitskraft, die Ausbeutung durch
Lohndrückerei, verlängerte Arbeitszeit und Intensivierung der Arbeit,
die entscheidende Bedingung für die Entfaltung des kapitalistischen
Systems in seiner Frühzeit.

Aber die hohe Mehrwertproduktion hat auch eine soziale Seite, womit
wir endlich wieder bei unseren Ideologen wären. Der produzierte
Mehrwert hat ja unmittelbar die Form von Waren, und ehe er in neue
Produktion investiert, als Kapital genutzt werden kann, muß er als
solcher, das heißt in Geldform, realisiert, sprich, er muß verkauft
werden. Wer soll die Waren kaufen, wenn nicht jene Gruppen, die über
Geld aus anderen Quellen als den Lohnarbeitszusammenhängen des
Marktes verfügen und die kraft dieses von außerhalb des Marktes
stammenden Geldes die Hauptnutznießer der marktspezifischen
Mehrwertproduktion sind? Wer sonst soll mit anderen Worten den
geschaffenen Mehrwert realisieren als die traditionellen
Oberschichten mit ihrem aus landesherrlichen Bergwerken, aus den
Kolonien, aus der Grundrente, aus fürstlichen Pfründen, aus
staatlichen Steuern stammenden Geld? Sie sind die Hauptnutznießer der
auf die ursprüngliche Akkumulation folgenden manufakturellen und dann
industriellen Ausbeutung der Lohnarbeitskraft.

Wie sehr sie Nutznießer sind, davon zeugen die absolutistischen Höfe
mit ihrer barocken Prachtentfaltung, zeugen die Adligen und Patrizier
mit ihren Landsitzen und Stadthäusern und ihrer galanten Lebensart.
Davon zeugt auch ein früher Politökonom wie Bernard Mandeville, der
in seiner Bienenfabel den Luxuskonsum der Oberschicht des ausgehenden
17. und beginnenden 18. Jahrhunderts zur Bedingung des Reichtums der
Gesellschaften und des Wohlstandes des kleinen Mannes erklärt, der
behauptet, die Bedürfnisbefriedigung der oberen Etagen der
Gesellschaft ließen in den unteren Etagen "den Schornstein rauchen".
Damit nähern wir uns nun in der Tat der im Sinne der klassischen
Lukácsschen Definition ideologischen Sichtweise, bei der nämlich die
Warenproduktion für den Markt bereits als für alle gesellschaftlichen
Schichten verbindliche Wirtschaftsform akzeptiert oder vielmehr
gutgeheißen und bei der so selbstverstandlich davon ausgegangen wird,
daß die in Form dieser Warenproduktion praktizierte
Mehrwertproduktion conditio sine qua non aller gesellschaftlichen
Reproduktion ist, daß diejenigen, die den unmittelbar in
Mehrproduktform erscheinenden Mehrwert zu realisieren helfen, indem
sie das Mehrprodukt kaufen, als die eigentlichen Träger und Erhalter
des Wirtschaftslebens erscheinen und daß in völliger Verkehrung der
tatsächlichen Abhängigkeiten die über den Markt abgewickelte
Subsistenz der Produzenten sich als bloße Folgeerscheinung, als
Abfallprodukt des Konsums des Mehrprodukts durch die Nichtproduzenten
präsentiert.

*Der bürgerliche Konsument als Ideologe*

Aber mögen die Verzehrer des Mehrprodukts und Realisierer des im
Mehrprodukt steckenden Mehrwerts, als die sich die traditionellen
Oberschichten in der Frühzeit der bürgerlichen Entwicklung
profilieren, noch so sehr an ideologischer Selbstüberschätzung leiden
- lange sind sie der ihnen von der frühbürgerlich-absolutistischen
Gesellschaft zugewiesenen Aufgabe nicht gewachsen. Was sie in Positur
bringt, untergräbt schließlich auch wieder ihre Stellung: die
unaufhaltsame Vergrößerung des durch Lohnarbeit erzeugten Mehrwerts,
teils relativ durch die wachsende Ausbeutung der Arbeitskraft, teils
absolut durch die akkumulationsbedingte Ausdehnung der Verfügung und
Kontrolle des Marktes über die Arbeitsprozesse auf immer größere
Teile der Arbeitssphäre. Das Mehrprodukt, in dem dieser wachsende
Mehrwert sich darstellt, ist von den traditionellen, kleinen
Oberschichten, mögen diese auch noch so sehr im Luxus schwelgen, bald
schon nicht mehr zu bewältigen. Neue, bürgerliche
Konsumentenschichten müssen her, um mit diesem Mehrprodukt
fertigzuwerden. Und diese müssen mit Geld ausgestattet werden, um
ihre konsumtive Rolle erfüllen zu können. Denn im Unterschied zu den
traditionellen Konsumenten bringen sie kein allgemeines
Wertäquivalent von außerhalb des Marktes, von zu Hause, mit.

Hier ist m.E. ein wesentlicher Grund für die Entstehung des
neuzeitlichen zentralen Staates mit den von ihm abhängigen, weil
direkt oder indirekt von ihm alimentierten Institutionen, Apparaten
und Gruppen zu sehen: Die Produktion von Mehrwert in Gestalt von
Mehrprodukt hat einen solchen Umfang angenommen, daß die Realisierung
dieses Mehrwerts nicht mehr naturwüchsigen gesellschaftlichen Gruppen
und ihrer Konsumfähigkeit und Konsumbereitschaft überlassen bleiben
kann, sondern daß von Staats wegen die nötigen Konsumentenschichten
organisiert und mit Geld dotiert werden müssen. Eine wichtige Aufgabe
des Staates ist es fortan, das allgemeine Wertäquivalent, das als
Repräsentant des im Zuge der kapitalistischen Lohnarbeitsprozesse
jeweils neugeschaffenen Mehrwerts in Warenform nötig ist, zu schöpfen
beziehungsweise bereitzustellen und so unter die Leute zu bringen,
daß sie per Konsum die Realisierung dieses Mehrwerts besorgen können.
Unnötig zu sagen, daß hier zugleich der Ursprung der modernen
staatlichen Geld- und Finanzpolitik liegt.

Der Staat gibt das Geld, das er in Umlauf setzt, um den in
Warengestalt geschaffenen Mehrwert durch ein entsprechendes Quantum
allgemeinen Wertäquivalents repräsentiert sein zu lassen, den neuen
Konsumentenschichten nicht unentgeltlich, er verschenkt es nicht an
sie. Er gibt es ihnen für Leistungen, die entweder auch vorher schon
erbracht wurden, allerdings ehrenamtlich und auf lokaler Ebene,
wahrend sie jetzt in staatliche Regie übernommen und honoriert
werden, oder die im Rahmen des zentralistischen Staates und seiner
veränderten Bedürfnisse neu entstehen beziehungsweise neue
Dringlichkeit und Umfänglichkeit gewinnen. Man denke an die
Verwaltung, die Rechtspflege, das Militär, später auch die Bildung
und den öffentlichen Dienst. Diese Leistungen zeichnen sich allesamt
dadurch aus, daß sie mit der materiellen Reproduktion der
Gesellschaft direkt nichts zu tun haben, nicht als aktive Beiträge in
das System der marktbezogenen gesellschaftlichen Arbeit, eingebunden
sind - selbst wenn sie indirekt und auf Umwegen zur Erhaltung des
Marktsystems beitragen mögen, etwa durch die Wahrung eines für die
Arbeit nötigen Mindestniveaus an Bildung oder Gesundheit.

Wenn ich sage, daß diese Leistungen kein Beitrag zur materiellen
Reproduktion der Gesellschaft sind, dann will ich sie damit nicht
etwa für allesamt gesellschaftlich unnütz erklären. Ihre
gesellschaftliche Nützlichkeit steht hier überhaupt nicht zur
Diskussion. Es geht mir darum, deutlich zu machen, daß unter dem
Deckmantel eines kaschierenden Arbeitsleistungs- und
Geldentlohnungsmechanismus zwei nach Interesse und Intention ganz
verschiedene gesellschaftliche Verhältnisse miteinander verquickt und
verschmolzen sind, ein ausbeuterisches Produktionsverhältnis und ein
konsumtives Nutznießerverhältnis. Verquickt sind beide, denn
einerseits ist zwar das Produktionsverhältnis offenbare Voraussetzung
des Nutznießerverhältnisses, weil durch die Produktion überhaupt erst
das Mehrprodukt geschaffen wird, das den Nutznießern die konsumtive
Teilhabe am Markt ermöglicht, andererseits aber kann auch das
Nutznießerverhältnis als Voraussetzung des Produktionsverhältnisses
gelten, weil ja die Realisierung des in dem Mehrprodukt steckenden
Mehrwerts, das heißt, die erfolgreiche Akkumulation von weiterem Geld
in der Funktion potentiellen Kapitals die Bedingung dafür ist, daß
Produktion überhaupt stattfindet und die daran geknüpfte, mehr oder
minder karge Subsistenz der Produzenten, ihre per Arbeitslohn
garantierte Beteiligung an der Nutznießung ihres eigenen Produkts
gewährleistet bleibt, kurz, daß das ganze System der auf die
Erzeugung von Mehrwert abgestellten, marktorientierten
gesellschaftlichen Reproduktion funktioniert.

In der Tat ist mit diesen quasi staatlich angestellten
Konsumentengruppen der Ideologenstatus im klassischen marxistischen
Sinne überhaupt erst perfekt. Die Ideologen, jene, die von der
gesetzten Unmittelbarkeit, der positiven Faktizitität der Warenwelt
im besonderen und der durch die Warenwelt mehr und mehr geprägten
Erscheinungswelt im allgemeinen profitieren, die Nutznießer dieses
Erscheinungsmodus sind, in dem sich die kapitale Produktion und
Aneignung von Mehrwert vollzieht, sind nicht mehr in anderen
ökonomischen Reproduktionssystemen verankerte und am Marktsystem
peripher partizipierende marginale Gruppen, sondern sind eine ins
Marktsystem vollständig integrierte und ganz und gar von ihm
abhängige zentrale gesellschaftliche Schicht, der bürgerliche
Mittelstand. Das Geld dieser bürgerlichen Konsumentenschicht stammt
nicht mehr aus den anderen Wirtschaftszusammenhängen, in denen die
früheren herrschaftlichen Konsumenten verankert sind, sondern wird
nach Maßgabe der sächlichen Wertschöpfung durch die kapitalisierte
Arbeit von Staats wegen systematisch ins System eingespeist und über
die Honorierung von nicht oder nur auf Umwegen marktrelevanten
Leistungen vornehmlich dieser bürgerlichen Konsumentenschicht
zugewendet.

*Das beste Gewissen der Welt als Ideologie*

Weil sich die nichtmarktrelevanten Leistungen der bürgerlichen
Konsumentenschicht durch die Geldform, in der sie entlohnt werden, in
ununterscheidbarer Kontinuität mit den durch Arbeitslohn vergüteten
marktrelevanten Leistungen der Produzentenschicht befinden, verleihen
sie der bürgerlichen Konsumentenschicht das subjektive Bewußtsein
eines begründeten Anrechts auf das gesellschaftliche Mehrprodukt, das
sie als solches zu konsumieren und damit als Mehrwert zu realisieren
verdienen. Und dieses subjektive Bewußtsein des Anrechts wird nun
noch durch ein quasi objektives Legitimationsbewußtsein untermauert.
Die bürgerliche Konsumentenschicht realisiert, daß ihr Nutznießertum,
ihr materielles Profitieren vom Mehrwerterzeugungs- und
-aneignungsmechanismus des Marktes, eine für die Aufrechterhaltung
der durch diesen Mechanismus bestimmten gesellschaftlichen
Reproduktion wesentliche Bedingung ist. Sie ist kein herrschaftlicher
Schmarotzer, der sich das Mehrprodukt aneignet, weil er zufällig über
Geld verfügt; sie ist eine integrale gesellschaftliche Gruppe, die
planmäßig mit Geld ausgestattet wird, das ihr erlaubt, sich das
Mehrprodukt anzueignen, weil sie nichtmarktspezifische, aber als
gesellschaftlich wichtig anerkannte Leistungen erbringt und weil sie
durch die Aneignung des Mehrprodukts wesentlich zum Bestand des
Gemeinwesens und zu dessen Wohlstand, die Subsistenz der
Produzentenschichten eingeschlossen, beiträgt. Sie spielt ihre
Nutznießerrolle mit dem besten Gewissen der Welt und im Bewußtsein
ihrer fraglosen Legitimation, vorausgesetzt nur, sie verhält sich
ideologisch, das heißt, geht von der marktgesetzten Unmittelbarkeit
und Positivität der Wirklichkeit als von einer unhinterfragbaren
Gegebenheit aus und akzeptiert damit auch den hinter der Maske dieser
Positivität sich vollziehenden Prozeß einer Schöpfung und Aneignung
von Mehrwert zu dem einzigen Zweck einer Schöpfung und Aneignung
immer neuen Mehrwerts als den stillschweigenden modus vivendi aller
Gesellschaft, als ebenso unverbrüchlichen wie unausgesprochenen
gesellschaftlichen Naturzustand

*Nutznießer seiner Ausbeutung: der Produzent als Ideologe*

Aber auch mit der Ausdehnung des Ideologenstatus auf den bürgerlichen
Mittelstand hat es noch nicht sein Bewenden. Das kapitalistische
Wertschöpfungsunternehmen auf der Basis von Lohnarbeit, bei dem der
bürgerliche Mittelstand als Wertrealisierer konsumkräftig mithilft,
geht ja dank des jeweils neugeschaffenen und in neue
Produktionsprozesse investierten Mehrwerts unaufhaltsam weiter und
sorgt durch die Erweiterung der bereits kapitalisierten Produktion
und durch die Ausdehnung auf neue, noch nicht kapitalisierte
Produktionsbereiche dafür, daß die Mehrwertmasse beziehungsweise die
Masse des Mehrprodukts, als die erstere sich unmittelbar darstellt,
immer gigantischer wird. Entsprechend gigantischer und zunehmend
unbewältigbarer wird auch die Aufgabe des Konsums dieses
Mehrprodukts. Jedenfalls unbewältigbar für den bisherigen
Hauptkonsumenten, den bürgerlichen Mittelstand. Gegen Ende des 19.
Jahrhunderts, im sogenannten Fin de siecle, tritt eine ähnliche
Situation ein wie die zu Anfang des 18. Jahrhunderts von Mandeville
bezeugte. Die bisherigen Nutznießerschichten sind dem Mehrprodukt und
der Aufgabe seiner Realisierung als Mehrwert nicht mehr gewachsen; es
müssen neue Gruppen her.

Diese neuen Gruppen rekrutieren sich nun in zunehmendem Maße und in
wachsendem Umfang aus der Produzentenklasse selbst. Daß sich in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die direkte Ausbeutung der
Produzenten durch Lohndrückerei und Arbeitszeitverlängerung
abschwächt und eine rückläufige Bewegung zu beschreiben beginnt und
daß durch Arbeitskampf und gewerkschaftliche beziehungsweise
politische Organisation eine Besserung der ökonomischen und sozialen
Verhältnisse der arbeitenden Klasse durchgesetzt wird, hat auch und
wesentlich etwas mit der Absatzkrise zu tun, in die das
kapitalistische System sich durch das Zugleich von ausbeutungsbedingt
gcringer Konsumkraft der Produzenten und expansionsbedingt wachsendem
Mehrprodukt bringt. Um der Wertrealisierungsprobleme Herr zu werden,
schlagen die kapitalistischen Gesellschaften in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts zwei Wege ein: den Weg einer imperialistischen
Expansion zwecks Eroberung neuer Absatzmärkte und den Weg einer
Dotierung der arbeitenden Klasse mit einem größeren Anteil der von
ihnen produzierten Wertmasse. In beiden Fällen leistet der Staat
entscheidende Hilfestellung, im einen Fall durch die militärische und
politische Absicherung der Eroberungen, im anderen Fall durch sozial-
und finanzpolitische Maßnahmen.

Daß die Produzenten durch Erhöhung ihrer Löhne und durch staatliche
Umverteilungen und Unterstützungen einen größeren Teil des von ihnen
produzierten Wertes erhalten und damit denn auch über einen größeren
Teil des Produkts verfügen können, in dem dieser Wert sich
unmittelbar darstellt, macht aus ihnen noch keine Ideologen. Wenn
Ideologen diejenigen sind, die von einem gesellschaftlichen
Reproduktionssystem profitieren, an dem sie nicht direkt beteiligt
sind, dessen Expropriationsmechanismen und expropriative
Erscheinungsformen sie aber als naturgegeben affirmieren, eben weil
sie darin die Basis ihrer Subsistenz finden, dann sind die
Produzenten, die ja an dem Reproduktionssystem nicht nur beteiligt,
sondern mehr noch diejenigen sind, zu deren Lasten es funktioniert,
nicht bloß deshalb schon Ideologen, weil die Last, die sie tragen
müssen, etwas geringer wird. Die Besserstellung der Produzenten im
Blick auf den Mehrwert, den sie schaffen, bedeutet nur eine
Veränderung der Ausbeutungsproportion, kein neues
Nutznießungsverhältnis.

In Richtung auf eine Art Nutznießungsverhältnis und insofern auch
eine Art Ideologenstatus werden die Produzenten indes aufgrund einer
anderen, mit ihrer Besserstellung Hand in Hand gehenden ökonomischen
Entwicklung gedrängt. Ich meine die seit der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts für die kapitalistische Entwicklung maBgebende Erhöhung
der Produktivkraft durch Technisierung der Produktionsprozesse. Damit
reagiert nämlich das Kapital auf die allmähliche Besserstellung der
Produzenten, die Erhöhung ihres Wertanteils an dem von ihnen
geschaffenen Produkt. Die Technisierungstendenz ist in der Trennung
der Produzenten von ihren Produktionsmitteln und der Kapitalisierung
der letzteren wesentlich und von Anfang an angelegt. Aber solange
noch die direkte Ausbeutung der Arbeitskraft ungehindert möglich
bleibt und das Kapital noch haupt- sächlich mit der Eroberung und
Umkrempelung der Produktionssphäre und ihrer verschiedenen Bereiche
befaßt ist, bleibt die Steigerung der Produktivkraft durch
Mechanisierung und Automatisierung, die sich als indirekte Form der
Ausbeutung darstellt, noch eher ein zwar der Tendenz nach
notwendiger, aber dem Verlauf nach zufälliger und unsystematischer
Vorgang. Jetzt aber, da das Elend der Produzenten und die Masse an
produziertem Mehrprodukt dazu nötigen, die Produzenten starker am
Konsum zu beteiligen und ihnen also durch bessere Löhne und
staatliche Zuwendungen mehr von dem Wert, den sie produzieren, zu
überlassen, wird für den Markt die Technisierung zu einem
systematisch eingesetzten Mittel, eine Verringerung des vom Markt
appropriierten Mehrwerts zu verhindern. Dadurch, daß sie mit
technischen Mitteln die Produktivität der Arbeitskraft erhöhen,
suchen sie die Einbuße an Mehrwert, die die Besserstellung der
Produzenten für sie bedeutet, zu kompensieren. Der Produzent bekommt
einen höheren Lohn, mehr Wert, als vorher, aber dank der
Technisierung erzeugt er nun auch ein größeres Mehrprodukt als vorher
und insofern scheint der Mehrwertverlust wettgemacht.

Der Schein allerdings, daß das vergrößerte Mehrprodukt automatisch
gleichbedeutend mit erhöhtem Mehrwert sei, trügt. Der Wert ist, wie
wir seit Marx wissen, Ausdruck und objektivierte Funktion
durchschnittlicher Arbeitszeit, und wenn dank erhöhter Produktivkraft
die für ein Produkt aufgewendete Arbeitszeit sich verringert, dann
verringert sich entsprechend auch der Wert des Produkts. Anders
gesagt, wenn die gleiche Arbeitszeit eine größere Produktmenge
zeitigt, entfällt ein geringerer Teil des gleichbleibenden Werts auf
das einzelne Produkt, und insofern bleibt alles beim alten. Zwar
vorübergehend, wenn die durchschnittliche gesellschaftliche
Arbeitszeit für das Produkt noch die alte ist und sich noch nicht am
neuen Produktivitätsstand orientiert, kann von dem Kapitalisten, der
diesen Produktivitätsstand erreicht hat, das Mehrprodukt auch als
Mehrwert realisiert werden und dem Betreffenden einen
Akkumulationsvorteil verschaffen. Aber um nicht ins Hintertreffen zu
geraten, müssen eben deshalb die anderen Kapitalisten nachziehen und
den neuen Produktivitätsstand übernehmen, und indem sie das tun, wird
die diesem neuen Stand entsprechende Arbeitszeit zur neuen
durchschnittlichen gesellschaftlichen Arbeitszeit, und das
Mehrprodukt hört auf, Mehrwert zu bedeuten.

Diese Methode, den größeren Wertanteil, den die Produzenten dank
Arbeitskampf und staatlicher Intervention erhalten, durch Erhöhung
der Produktivkraft zu kompensieren, taugt mithin zu nichts anderem
als zur Entfachung eines Konkurrenzkampfes, dessen einziger Effekt
eben die fortwährende Erhöhung der Produktivkraft ist. Und mit dieser
fortlaufenden Erhöhung der Produktivkraft sind nun aber zwei
gravierende und krisenträchtige Konsequenzen verknüpft, eine
ökonomisch- systematische und eine sozial-pragmatische. Die
systematische betrifft die sogenannte Veränderung in der organischen
Zusammensetzung des Kapitals. Die produktivitätssteigernde
Technisierung der Produktionsprozesse bedeutet, daß relativ immer
mehr Kapital in die Produktionsmittel und die Rohstoffe und immer
weniger in die menschliche Arbeitskraft investiert wird, daß mit
anderen Worten die Proportion zwischen fixem und variablem Kapital,
zwischen Arbeitsmittel und Arbeitslohn sich immer mehr zugunsten des
ersteren verschiebt. Das hat zur Folge, daß zwar der produzierte
Mehrwert, das, was nach Abzug der Arbeitslöhne dem Kapitalisten an
Produktwert verbleibt, immer größer wird, daß gleichzeitig aber der
Profit, das, was nach Abzug aller Produktionskosten, der Löhne und
der Aufwendungen für die Arbeitsmittel, dem Kapitalisten von diesem
Produktwert als sein Gewinn verbleibt, immer mehr sinkt. Unter dem
Motto vom tendenziellen Fall der Profitrate wurde daraus
verschiedentlich auf eine der Kapitalentwicklung inhärente
Selbstlähmungs- und Selbstvereitelungstendenz geschlossen, eine quasi
automatische Tendenz des Kapitals, sich ihres Motivs, des Profits,
zunehmend zu berauben und in eine wegen der ständig größeren
Diskrepanz zwischen Investitionsaufwand und Ertrag bis zur
Versteinerung wachsende Trägheit und Unbeweglichkeit zu verfallen. An
diese These von einer der Kapitalentwicklung immanenten
Selbstzerstörungstendenz glaube ich aber nicht, weil ich von der
Wirksamkeit rein struktureller, quasilogischer Widersprüche nichts
halte. Solange ein Widerspruch bloß strukturell, nur logisch ist, auf
das betreffende System selbst, sein inneres Gefüge, beschränkt
bleibt, läßt er sich funktionell, empirisch verkraften. Brisant wird
ein Widerspruch erst dann, wenn er zu Funktionsstörungen führt, die
Wirkungen des betreffenden Systems auf die Außenwelt, auf sein
empirisches Milieu betrifft.

Interessanter und einschlägiger für das Problem, mit dem wir ja
eigentlich befaßt sind, das Problem der Ideologie, des
Unmittelbarkeitskultes, scheint mir die zweite Konsequenz aus der
Produktivkraftentwicklung durch Technisierung, die ich als
sozial-pragmatische Konsequenz bezeichnet habe. Sie ergibt sich
daraus, daß die Spirale der Produktivitätsentwicklung zwar letztlich
den Wert des Produkt nicht vermehrt, sehr wohl aber die Produktmenge
selbst. Je produktivkräftiger die Produktionsprozesse ablaufen, um so
mehr Gebrauchsgegenständlichkeit schaffen sie, auf die sich der
gleichbleibende produzierte Wert verteilt. Das aber bedeutet, daß
auch die Produzenten von dieser produktivitätsbedingten Vermehrung
des materiellen Reichtums profitieren, weil sie sich für ihren als
Arbeitslohn firmierenden Wertanteil nun mehr Produkt kaufen können
als vorher. Durch eine ökonomische Entwicklung, deren Träger sie zwar
formell nach wie vor sind, die aber gleichzeitig über ihre Köpfe
hinweg verläuft und sie sozusagen nichts angeht, weil das reale
Subjekt dieser Entwicklung die ihrer Verfügung entzogenen
Produktionsmittel, die als fixes Kapital firmierenden
Produktionsapparaturen sind, werden sie, ohne daß sich der Sache nach
an ihrem Ausbeutungsverhältnis systematisch etwas änderte,
gleichzeitig zu Nutznießern dieser ihrer eigenen Ausbeutung. So
werden sie zu Ideologen zweiter Ordnung, zu unwillkürlichen
Begünstigten der an sich auf ihre Kosten in kapitalistischer Form
organisierten gesellschaftlichen Reproduktion. Zum ersten Mal in der
Geschichte ist die Positivität und Unmittelbarkeit, in der die
marktgesetzte Realität ihnen entgegentritt, auch für sie nicht bloß
negative Bedingung, damit sie an Geld und durch das Geld an
Subsistenzmittel herankommen, sondern positiver Mechanismus einer
quasi aus dem Nichts der kapitalistischen Produktion hervorgehenden
immer umfänglicheren Versorgung mit Konsumgütern. Obwohl sie nach wie
vor nicht am Mehrwert partizipieren, entsteht dank der ständig
wachsenden Gütermenge, in der sich der produzierte Wert darstellt,
auch bei ihnen jener Füllhorneindruck, den vorher höchstens die
Nutznießer des produzierten Mehrwerts, die Ideologen im
traditionellen Sinne, mit der marktzentrierten,
akkumulationsorientierten Wirtschaftsform, die in ihrer modernen
Gestalt der Kapitalismus ist, verbanden.

Hinzu kommt, daß die Mehrwertproduktion ja weitergeht, wenn auch
nicht in dem durch die Produktivitätsentwicklung suggerierten Tempo,
und daß dieser Mehrwert für seine Realisierung immer mehr Konsumenten
braucht. Das hat eine Erweiterung der bereits vorhandenen staatlich
dotierten Ideologenschichten um immer neue Gruppen im Bereich der
Verwaltung, des Öffentlichen Dienstes, der Medizin, des Sozialwesens
usw. zur Folge, die dank der gesellschaftlichen Produktivkraft mit
ähnlich geringen Wertanteilen, wie die Arbeiter sie bekommen, ein
ähnlich auskömmliches Leben führen können. Und so entsteht der
Eindruck jener Kontinuität von - egal, ob privatwirtschaftlich oder
staat- lich - abhängigen Beschäftigungsverhältnissen, von
Arbeitnehmerschaft als gesellschaftlicher Grundbefindlichkeit, der
seinen Niederschlag in der Rede von der Angestelltengesellschaft
gefunden hat.

*Absatzkrise als Dauerzustand*

Das Füllhorn, als das sich die kapitalistische Wirtschaft für breite
Schichten erweist, hat allerdings einen großen Haken. Es beinhaltet
nicht nur die Möglichkeit des Konsums, sondern auch die Verpflichtung
dazu. Soll der produzierte Wert, der sich in der rasch wachsenden
Gütermenge versteckt, als solcher realisiert werden und damit denn
auch jener Teil des Wertes seine Einlösung finden, der als Mehrwert
das für das Kapital maßgebende Motiv der ganzen gesellschaftlichen
Reproduktion ist, so muß die Gesamtheit der Gütermenge an den Mann
und die Frau gebracht, zwecks Konsum verkauft werden. Gelingt diese
Realisierung und Einlösung nicht, verliert das Kapital sein Motiv,
und die gesellschaftliche Reproduktion gerät ins Stocken
beziehungsweise droht stillzustehen. Wegen des produktivitätsbedingt
raschen Wachstums der Gütermenge erweist sich die konsumtive
Einlösung des Wertes der Waren aber als immer schwieriger. Anders
gesagt, das System beweist eine zunehmende Tendenz zur Überproduktion
und zu daraus resultierenden Absatzproblemen, die als Ursache der
heutigen chronischen Wirtschaftskrise manifest sind und die
vielleicht schon früher im Jahrhundert voll manifest geworden wären,
hätten nicht die beiden Weltkriege für Aufschub gesorgt.

Mit Bemühungen, der Absatzprobleme Herr zu werden, ist das Kapital
jedenfalls schon das ganze Jahrhundert hindurch zugange. Im
wesentlichen stehen ihm dazu drei Wege offen. Erstens kann es
versuchen, den imperialistischen Weg weiterzugehen und seine
Absatzmärkte in die Dritte Welt hinein auszudehnen. Dieser Strategie
sind aber durch die wie immer unvollkommenen politischen
Autonomisierungstendenzen der Dritten Welt und vor allem dadurch
Grenzen gesetzt, daß die Ausplünderung der Dritten Welt durch die
kapitalistischen Länder im Rahmen des Austauschverhältnisses zwischen
Rohstoffen und Industriegütern der ersteren gar nicht genug
Kaufkraft läßt, um ihr eine ernsthafte Entlastungsfunktion im Blick
auf die Überproduktion der kapitalistischen Länder zu erlauben.

Zweitens kann das Kapital jenen Weg beschreiten, den Begriffe wie
"Innovation" und "Bedarfsschöpfung" bezeichnen. Das heißt, es kann
durch die Schaffung immer neuer Bedürfnisse und die Produktion immer
neuer Befriedigungsmittel versuchen, neue Absatzmöglichkeiten zu
schaffen. Aber zum einen geht das wiederum zu Lasten bereits
vorhandener Formen und Mittel der Bedürfnisbefriedigung, bedeutet
also auch immer ökonomische Verluste, und zum anderen stellt sich
dank des hohen Produktivitätsniveaus, auf dem diese neuen Sparten
jeweils anfangen, das Uberproduktionsphänomen rasch und in ständig
erweiterter Form wieder ein.

Während diese beiden Wege zur Bewältigung der Absatzprobleme noch
eher aggressiv orientiert, auf eine Erweiterung des Marktes gerichtet
sind, ist der dritte Weg, der Weg der Rationalisierung, schon rein
defensiv, auf einen marktinternen Positionskampf und
Verdrängungswettbewerb abgestellt. Auf diesem dritten Weg geht es um
eine Senkung der Produktionskosten entweder durch eine Erhöhung der
Produktivität der Arbeit bei gleichbleibender Lohnsumme oder aber
durch eine Einsparung von Lohnkosten bei gleichbleibender
Produktivität der Arbeit. Ziel ist dabei indes nicht mehr die
Erhöhung des Mehrwerts, sondern die Senkung der Preise und damit die
Verbesserung der Absatzchancen tür das eigene Produkt im Verhältnis
zu den Produkten der Konkurrenten. Das heißt, der Kapitalist begnügt
sich im Zweifelsfall mit der alten Gewinnspanne und gibt den
relativen Mehrwert, den er durch Rationalisierung erzielt, daran, um
die Ware absatzfähiger zu machen.

Wie das 19. Jahrhundert das Zeitalter einer Erhöhung der
Produktivität durch Technisierung ist, so ist das 20. Jahrhundert das
Zeitalter einer Erhöhung der Produktivität durch Rationalisierung.
Der Übergang von der Technisierung zur Rationalisierung bedeutet
dabei nicht etwa einen Wechsel in den Mitteln und in der Methode der
kapitalistischen Akkumulation, sondern bloß eine Veränderung ihrer
Frontstellung und Stoßrichtung. Die fortschreitende Technisierung und
Automatisierung bleibt ein zentraler Aspekt auch der
Rationalisierung. Aber während sie vorher noch in der Hauptsache der
Erhöhung des Mehrwerts diente und also ein Mittel im Kampf mit den
lohnabhängigen Produzenten um den jeweiligen Anteil am produzierten
Wert war, dient sie im Rahmen der Rationalisierung nurmehr der
Realisierung des Mehrwerts und ist insofern bloß noch ein Mittel im
Kampf mit den kapitalistischen Konkurrenten um die Erhaltung der
unter Überproduktionsbedingungen gefährdeten eigenen Marktposition.
Die Erhöhung des Mehrwerts durch produktivitätssteigernde
Technisierung erwies sich als Illusion; das einzige, was sich
vermehrte, war letztlich die den Wert verkörpernde Produktmenge, und
das ermöglichte einerseits eine Hebung des Konsumniveaus auf breiter
Front und schuf andrerseits schon bald die als Absatzkrise
erscheinenden Probleme bei der Realisierung des in den Produkten
verkörperten Werts. Der Lösung dieses Wertrealisierungsproblems dient
die Rationalisierung; aber auch diese Lösungsstrategie erweist sich
als illusionär. Zwar dem einzelnen Kapitalisten mag es gelingen,
kurzfristig oder auch auf längere Zeit den Kopf aus der Schlinge
seiner Absatzprobleme zu ziehen, wenn er dank Rationalisierung seine
Produkte verbilligen und konkurrenzfähiger machen kann. Aufs Ganze
gesehen indes verschärft die Rationalisierung die Absatzprobleme nur
immer weiter. Entweder nämlich die Rationalisierung vergrößert bei
gleichbleibenden Lohnkosten die Produktivität, um das vermehrte
Produkt billiger verkaufen zu können: dann sorgt sie für eine
Vermehrung der Gesamtwarenmenge auf dem Markt und vergrößert
entsprechend die Absatzprobleme. Oder aber sie vermindert bei
gleichbleibender Produktivität die Lohnkosten; dann ist das
gleichbedeutend mit Entlassungen (Freisetzung von Arbeitskräften,
sagt man heute) und das heißt, mit einer Verkleinerung
beziehungsweise ökonomischen Schwächung des Kreises derer, die durch
ihren Konsum für die Wertrealisierung sorgen sollen. So oder so
wirtschaftet sich das kapitalistische System dank seines Zwanges, die
ganze gesellschaftliche Reproduktion an die Schaffung von Mehrwert zu
knüpfen, immer tiefer in die Sackgasse hinein.

*Aporie der Krisenlösungsstrategien: Aktueller Ausblick*

Wie tief sie bereits darinsteckt, zeigt die gegenwärtige Dauerkrise.
Einerseits schwatzt die sieche, an ihrer Überfülle kränkelnde
Wirtschaft zwar nach wie vor von Innovation und Expansion des
Exports, und greift nach wie vor unverdrossen auf das Instrument der
Rationalisierung zurück, andererseits aber bläst sie - und das ist
eine entschieden neue Qualität in der Entwicklung - immer
unverhohlener zum Sturm auf die politischen Rahmenbedingungen des
wirtschaftlichen Geschehens - und tut das mit Unterstützung nicht
zuletzt der Politik selbst. Unter Berufung auf die Notwendigkeit, den
"Wirtschaftsstandort Deutschland zu erhalten" und "die Arbeitsplätze
zu sichern" plädiert sie für eine direkte Verbilligung der Arbeit
durch Lohnsenkungen und durch die Befreiung des Arbeitsmarktes von
gesetzlichen Restriktionen sowie für eine indirekte Verbilligung der
Produktion durch den Abbau staatlicher Belastungen der Wirtschaft.
Kurz, sie tritt für einen politischen Abbau sozialstaatlicher
Strukturen ein.

Was erhofft sie sich davon? So, wie die Dinge liegen, das gleiche wie
von ihren innerökonomischen Rationalisierungsmaßnahmen: die
Möglichkeit, ihre Produkte billiger auf den Markt zu bringen und
damit in einer Situation des Überangebots von Produkten ihre
Konkurrenzfähigkeit zu stärken. Aber was hilft ihr das, wenn sie
gleichzeitig durch diese politisch durchgesetzte Senkung der
Lohnkosten, das heißt, Senkung des der Arbeit zufallenden
Wertanteils, die Kaufkraft im Lande schwächt und die Produzenten in
ihrer Funktion als Konsumenten angreift? Einen Sinn gewinnt diese
Strategie nur, wenn man die Sache im internationalen Maßstab
betrachtet und erkennt, daß die Situation bereits so verfahren ist,
daß die Kapitalisten anfangen, das per Rationalisierung praktizierte
"Rette sich wer kann" eines Konkurrenzkampfes zwischen einzelnen
durch die Bildung von gewohnheitsmäßig an nationalen Grenzen
orientierten volkswirtschaftlichen Solidargemeinschaften zu ergänzen
beziehungsweise zu ersetzen. Die Rede von der zu teuren Arbeit und
die Forderung nach einer Verbesserung des Wirtschaftsstandorts durch
Verbilligung der Arbeitskraft hat einen Sinn nur als Ausdruck des
Versuchs, das Überangebot im eigenen Lande ohne Schmälerung oder gar
Verlust des Mehrwerts, der in ihm steckt, so zu verbilligen, daß es
bei den ausländischen Handelspartnern absetzbar und damit in seinem
Wert auf Kosten der ausländischen Konkurrenz realisierbar wird. Daß
man damit den Konsumentenkreis im eigenen Land verkleinert oder
schwächt, erscheint angesichts der Größe der ausländischen Märkte,
auf denen man auf diese Weise renssiert, als das eindeutig kleinere
Übel.

Hinzu kommt, daß die billige Arbeit im eigenen Land ausländisches
Kapital anzieht und dazu ermuntert, Produktionskapazitäten ins Land
zu verlagern, so daß also auch mit der Aussicht auf neue
Arbeitsplätze gewunken werden kann. Was das deutsche Kapital schon
längst tut, nämlich Produktion in andere Länder mit niedrigem
Lohnniveau und geringer Sozialstaatlichkeit zu verlagern, das macht
natürlich auch das ausländische Kapital mit Deutschland, wenn
letzteres bereit ist, sich auf politischem Wege in ein Billiglohnland
zu verwandeln.

Aber wohlgemerkt, der einzige Sinn dieser Senkung der Löhne und
Zurücknahme sozialer Leistungen besteht im Kampf der einzelnen
industriegesellschaftlichen Volkswirtschaften um Anteile an einem
übersättigten Weltmarkt. Und weil dieser Kampf wesentlich in der
Weise geführt wird. daß man in der Hoffnung auf die Mobilisierung von
Komsumkraft in anderen Ländern die Konsumkraft im eigenen Land
schwächt, kann er, selbst wenn er kurzfristig für die eine oder
andere Volkswirtschaft Entlastung bringt, langfristig auch nur dazu
führen, daß, aufs Gesamtsystem der konkurrierenden Volkswirtschaften
gesehen, die Absatzprobleme zunehmen. Wo die kapitalakkumulative
Mehrwertproduktion conditio sine qua non jeder gesellschaftlichen
Reproduktion ist und wo der produzierte Wert sich aus den genannten
Gründen in einer relativ immer größeren Produktmenge darstellt, muß
sich der Konsum zwangsläufig als die Achillesferse des Systems
herausstellen und muß es zwangsläufig zu irrenlogischen Konsequenzen
wie der geschilderten kommen, daß die einzelnen Volkswirtschaften zur
Sicherung ihres Wohlstandes oder vielmehr zur Sicherung des kapitalen
Akkumulationsprozesses, an dem ihr Wohlstand hängt, eben diesen
Wohlstand Schritt für Schritt demontieren müssen.

*Ideologie als allgemeines Bewußtseinsschicksal*

Wie reagieren die primären und sekundären Nutznießer dieser an sich
selbst erstickenden Mehrwertproduktion, wie reagieren wir, die
Ideologen, auf diese verfahrene Situation? Da gibt es eine
rechtsorientierte und eine linksorientierte Reaktion. Die
rechtsorientierte lauft auf eine Unterstützung der Politik eines
Sozialabbaus zwecks Verbesserung des "Wirtschaftsstandorts" hinaus.
Sie findet sich bei denen, die vom Abbau nicht betroffen sind und die
vom internationalen Konkurrenzkampf mit seinem ständigen Unterbieten
der Preisniveaus für ihren Lebensstandard höchstens profitieren.
Diese Reaktion ist logisch. Unlogischer und interessanter ist die
linksorientierte Reaktion. Sie gründet in der vornehmlich für die
sekundären Ideologen charakteristischen Sicht vom kapitalistischen
System als einem quasi aus eigener, produktivitätsgesättigter Kraft
Wohlstand schaffenden Produktionsautomaten und in der fest
verwurzelten Überzeugung, daß der einzige Weg zur Teilhabe an diesem
Wohlstand in gesellschaftlich nützlicher Arbeit und der für diese
Leistungen zum Wohle der Gesellschaft gewährten monetären Entlohnung
besteht. Durchaus im Einklang mit der Tatsache, daß die an der
Produktion mitwirkenden und die vom Mehrprodukt zehrenden
"Werktätigen" praktisch ununterscheidbar geworden und in einem
übergreifenden Angestellten- oder"Arbeitnehmer"-Status
zusammengeschlossen sind, erscheinen im öffentlichen Bewußtsein
Arbeit und Wertproduktion voneinander abgekoppelt. Die
Warenproduktion stellt sich als ein vom Kapital, von der
"Wirtschaft", ebenso automatisch wie höchstpersönlich exekutierter
Prozeß dar, während die gesellschaftliche Arbeit nurmehr als der
gesellschaftlich sanktionierte Weg gilt, sich einen in allgemeinem
Äquivalent, in Geld, bestehenden Anspruch auf die produzierten Waren
zu sichern.

Dieses Bewußtsein von der Arbeit als einer zwar nicht mehr für die
Produktion grundlegenden, wohl aber für den Konsum des Produzierten
maßgebenden Voraussetzung findet seinen Niederschlag in der Rede vom
"Arbeitsplätze schaffen" und vollends in der griffigen Formulierung
des Oberdemagogen von der SPD, wenn er vorschlägt "statt der
Arbeitslosigkeit Arbeitsplätze zu finanzieren". Hier ist die Arbeit
zynisch als die Belastung ausgesprochen, zu der sie für das
kapitalistische System mittlerweile geworden ist. Es werden nämlich
keine "Arbeitsplätze" gebraucht, sie sind überflüssig. Arbeitsplätze
in der Produktion werden nicht gebraucht, da ja die Absatzprobleme
ohnehin schon groß genug sind. Arbeitsplätze in den Bereichen
nichtproduktiver, "sozialer" Leistungen würden zwar gebraucht, würden
aber durch ihre Finanzierung direkt oder indirekt die
Produktionskosten erhöhen und verbieten sich deshalb in einer
Situation des internationalen Konkurrenzkampfes, bei dem es allein
darum geht, wer am preisgünstigsten produziert und deshalb sein
Produkt auf Kosten der anderen absetzen kann.

Am realistischsten sind die linken Ideologen vielleicht noch da, wo
sie eine Umverteilung der Vermögen beziehungsweise der Arbeit
fordern. Durch eine Umverteilung von Vermögen auf die vom System
benachteiligten oder halbwegs ausgeschlossenen Gruppen ließe sich in
der Tat der Konsum ankurbeln und dadurch die Absatzkrise mildern. Und
durch eine Aufteilung von Arbeit ohne Erhöhung der Lohnkosten ließe
sich in der Tat die Arbeitslosigkeit verringern und damit dann
wiederum durch Ankurbelung des Konsums die Absatzkrise mildern. Aber
abgesehen von der Frage der Realisierungschancen, die solche
Eingriffe hätten, würden sie nicht das mindeste an dem entscheidenden
Übel ändern - dem Übel nämlich, daß im kapitalistischen System die
gesellschaftliche Reproduktion nur statthat, wenn sie der Produktion
von Mehrwert zwecks Produktion von weiterem Mehrwert dient, und daß
also die Versorgung der Menschen mit Bedürfnisbefriedigungsmitteln
eine abhängige Funktion und ein bloßes Vehikel der Versorgung des
Kapitals mit Kapital ist, anders gesagt, der Versorgung des Kapitals
mit dem, was es braucht, um die Versorgung der Menschen mit
Bedürfnisbefriedigungsmitteln in immer quantitativ umfassenderer und
qualitativ vielfältigerer Form in den Dienst seiner eigenen, stets
erweiterten Reproduktion zu stellen. In der krisenhaften Entwicklung,
die das heraufbeschwört, indem es die am Versorgungssystem
Beteiligten zwingt, sich immer umfassender versorgen zu lassen oder
andernfalls gar nicht versorgt zu werden, und schließlich in dem Maß,
wie sie dessen, womit sie im Übermaß versorgt werden, nicht mehr Herr
werden, einer Reduktion ihrer Versorgung zuzustimmen, damit die
Versorgungsgüter anderen zu Dumpingpreisen angedreht werden können
und die Beteiligten selbst wenigstens ihr erniedrigtes
Versorgungsniveau halten können - in einer solchen krisenhaften
Entwicklung hätten jene Umverteilungen höchstens aufschiebende
Wirkung.

Nimmt man diese Reaktionen speziell der linken Ideologen, so kann man
mit Fug und Recht sagen, daß Ideologie in unserer Gesellschaft zu
einem allgemeinen Bewußtseinsschicksal geworden ist. Wegen des
beispiellosen Konsumtionsniveaus, das das als Mehrwertproduktion
organisierte gesellschaftliche Reproduktionssystem aufgrund der dabei
entfesselten ungeheuren Produktivität ermöglicht, ist dieses System
offenbar nicht mehr in seiner Grundstruktur in Frage zu stellen,
selbst dort nicht, wo es Miene macht, sich durch seinen eigenen
Erfolg ad absurdum zu führen und nämlich die Realisierung des
Mehrwerts durch die Steigerung des Mehrprodukts zu vereiteln: Das
einzige, wozu wir, die Ideologen, die aufs Erscheinungswissen
vereidigten Beteiligten, noch imstande sind, ist, das in seinen
Selbstwiderspruch verstrickte, desorientierte kapitalistische System,
den großen ebenso steuerlosen wie verselbständigten
Bedürfnisbefriedigungsapparat, als ein seiner selbst mächtiges
Subjekt hochzuhalten und zur Erfüllung der von ihm mit Rücksicht auf
uns übernommenen Versorgungspflichten zu mahnen. Indem wir das System
unserer Arbeits- und Leistungsbereitschaft versichern, meinen wir,
ihm die Erfüllung seines Versorgungsversprechens abverlangen zu
können. Nur übersehen wir dabei, daß es ein und dieselbe, als
Naturbedingung gesellschaftlicher Reproduktion akzeptierte Mechanik,
die Mehrwertproduktion, ist, die bis dahin für die immer bessere
Versorgung Sorge trug und die jetzt in der Konsequenz ihres eigenen
Wirkens umgekehrt zum entscheidenden Hindernis solcher Versorgung zu
werden droht.

Ulrich Enderwitz, Vortrag im Rahmen der Rote Ruhr
Uni 97 in Bochum veröffentlicht in: bahamas 25 S.52-60

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